Ein sozialer Strukturbruch mit unabsehbaren Folgen – Zwischenmenschlichkeit in Corona-Zeiten

frau besucht ihre mutter in zeiten von social distancing

Die Corona-Pandemie verändert unser zwischenmenschliches Miteinander in noch unabsehbarem Ausmaß. Nicht nur während des Lockdowns war dies spürbar, sondern auch in der Zeit der ersten Lockerungen. Schließlich hat der Staat angeordnet, dass die körperliche Nähe zu anderen Menschen für unbestimmte Zeit auf ein Minimum zu reduzieren ist. Infolgedessen findet das Arbeits- und Privatleben (auch) in Deutschland nach wie vor größtenteils digital statt – wenn auch notgedrungen. Die Verordnungen des Bundes zur Eindämmung des Virus begünstigen dadurch nicht nur einen Anstieg in der Nutzung digitaler Medien, sondern auch in der Etablierung neuer Formen der Zwischenmenschlichkeit. Diese neuen sozialen Interaktionsformen werden vermutlich auch in der Post-Corona-Zeit das menschliche Denken und Handeln beeinflussen, während wiederum andere soziale Gepflogenheiten verschwinden werden. Doch ein Bruch in den sozialen Strukturen unserer Alltagswelt fand bereits viel früher statt.

Die Unterbindung physischer Kontakte und ihre Folgen

Weltweit findet gerade ein Wandel im Denken, Fühlen und Handeln vieler Menschen statt. Dass die gegenwärtige Pandemie dazu in der Lage ist, ganze Gesellschaften grundlegend zu verändern, ist kaum zu bestreiten. Am auffälligsten zeigt sich dieser Wandlungsprozess in der Art und Weise, wie die Menschen miteinander umgehen. Viele alltägliche Gesten und soziale Selbstverständlichkeiten, die üblicherweise unseren zwischenmenschlichen Umgang prägten, haben sich verändert oder sind mittlerweile verschwunden: Seien es beispielsweise das Vermeiden von Blickkontakt in der Öffentlichkeit oder der schroffe Umgangston, den manche Menschen derzeit besonders häufig an den Tag legen. Ob die staatlich angeordnete körperliche Distanz zu anderen Menschen auch eine allgemeine soziale Distanzierung begünstigt hat, darüber lässt sich nur spekulieren. Dann jedenfalls könnte die Corona-Krise nicht nur zu einer medizinischen, sondern in absehbarer Zeit auch zu einer psychologischen oder sozialen Krise führen, wie der Psychologe Hannes Zacher bereits im März auf mdr.de anmerkte. Denn für Menschen sind soziale Kontakte überlebenswichtig. Ansonsten droht ihnen nicht nur die Vereinsamung, sondern auch der Verlust ihrer Identität.

depressiver junger mann wegen strukturbruch

Der Mensch ist von Geburt an auf seine Mitmenschen angewiesen, die ihm sowohl Sicherheit und Vertrauen vermitteln als auch helfen, seinen Platz in der Gesellschaft zu finden. Vor diesem Hintergrund leuchtet es ein, dass Kontaktbeschränkungen und die damit verbundene soziale Abgeschiedenheit Konsequenzen für die psychische Gesundheit und das Sozialleben einer ganzen Gesellschaft haben. Denn nun wird dem Menschen bewusst, wie sehr sein Alltag von sozialen Kontakten abhängt und wie sehr er die Eigentümlichkeiten und Verhaltensweisen derselbigen schätzt. Doch wenn die herkömmlichen Formen der Zusammenkunft unterbunden werden, dann fallen auch gewohnte Erwartungshaltungen weg, nach denen er sein Leben ausrichten kann. Da der Mensch zur Stabilisierung seines Selbstbilds unablässig mit seiner sozialen Umwelt über Symbole interagieren muss, ist er also auf neue Wege des sozialen Miteinanders angewiesen. Tatsächlich bringe die Corona-Krise nicht nur soziale Distanz und Misstrauen hervor, sondern stärke, so die Leiterin des Südtiroler Caritas-Studienzentrums Giulia Rossi, auch den Wunsch nach authentischer und intensiver Zwischenmenschlichkeit.

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Über eine mögliche Dualität des sozialen Miteinanders

Der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke geht davon aus, dass die gegenwärtige Corona-Pandemie Bruchlinien vertiefe, über die in der Gesellschaft und Politik schon seit Jahren diskutiert wird. In seinem Artikel „Aus Berührung wird Rührung auf zeit.de spricht er von einem „Bedeutungsverlust nahräumlicher Bezüge“, den nicht nur die Menschen in Deutschland gerade erleben. Schließlich führen die Corona-Maßnahmen dazu, dass unser soziales Leben – sofern möglich – sukzessive ins Digitale übertragen wird. Dabei werde jedoch, so Koschorke, lediglich beschleunigt, was sich bereits seit langem vollziehe: Ein gesellschaftlicher Wandel im Zuge von Digitalisierungsprozessen, der auch auf neue Konzepte der Zwischenmenschlichkeit abstellt. Tatsächlich verliert die physische Nähe von Interaktionspersonen für die Bildung von Gemeinschaften schon seit Jahrhunderten an Relevanz. Diesem Veränderungsprozess sollten wir mit Offenheit begegnen, denn die neuen Formen der (digitalen) Vergemeinschaftung und die daraus resultierenden sozialen Erwartungshaltungen sind lediglich Ausdruck einer erfolgreich digitalisierten Gesellschaft.

Screenshot einer Webkonferenz

Der bundesweite Ausnahmezustand führt sowohl zu kollektiven als auch zu persönlichen Notlagen. Von den Folgen der Pandemie werden die Menschen in Deutschland unterschiedlich schwer getroffenFrauen tendenziell mehr als Männer. Um die tägliche Informationsflut meistern und den eigenen Gefühlshaushalt besser regulieren zu können, ist jeder Mensch zunächst auf eigene Bewältigungsstrategien angewiesen, bevor er sich an seiner sozialen Umgebung orientieren kann. Dazu gehört auch, dass neue Formen der Zwischenmenschlichkeit ergründet und beibehalten werden müssen. Aktuell lässt sich das soziale Umfeld der meisten Menschen tendenziell in zwei Kategorien aufteilen: Unverzichtbare soziale Kontakte, die im physischen Nahraum stattfinden, und sonstige soziale Kontakte, die überwiegend digital gepflegt werden. Demnach erhält die Zwischenmenschlichkeit, die von Angesicht zu Angesicht erlebt wird, derzeit eine besonders exklusive Bedeutung. Doch ob sich eine solche Dualität des sozialen Miteinanders auch in Zukunft durchsetzen wird, hängt neben der Dauer des Ausnahmezustands noch von vielen anderen Faktoren ab. Es wird sich zeigen, ob und inwiefern die Corona-Krise das Denken und Handeln einer ganzen Generation von Menschen prägen wird.

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1 Kommentar

Alexandra 11. August, 2020 - 11:09 pm

Extrem wichtiger Artikel und ein Umbruch, der leider kaum dikutiert wird. Vielen Dank dafür!

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