In der Arbeitswelt macht es einen großen Unterschied, ob jemand kompetent ist oder sich nur so fühlt. Doch tendieren Menschen dazu, andere realistischer zu beurteilen als sich selbst. Eine falsche Selbsteinschätzung im Job kann letztendlich nachhaltige Konsequenzen auf die berufliche Weichenstellung haben.
Sie kann beispielsweise dazu führen, dass Aufstiegschancen nicht wahrgenommen oder Jobwechsel bereut werden. Durch aufrichtiges und regelmäßiges Feedback von außen lässt sich der eigene Wahrnehmungshorizont erweitern und der „blinde Fleck“ des Nichtwissens minimieren. Auch ein gewisses Maß an Sendebereitschaft spielt hierbei eine Rolle.
Der „blinde Fleck“ der Selbstwahrnehmung
Der US-Staatsmann Benjamin Franklin soll einmal gesagt haben, dass es drei Dinge gäbe, die extrem hart sind: Stahl, ein Diamant und sich selbst zu kennen. Heute wissen wir, dass diese Aussage einen hohen Wahrheitsgehalt hat. Denn, wissenschaftlich betrachtet, nimmt es der Mensch mit der Selbstwahrnehmung tatsächlich nicht so genau. Die US-amerikanischen Psychologen Thomas Gilovich und Elanor Williams führen in diesem Zusammenhang den sogenannten „Better-than-Average-Effekt“ an – auch genannt „Overconfidence“.
Demnach nehme der Mensch sich und seine Fähigkeiten üblicherweise positiver wahr, als es Außenstehende tun würden. Überträgt man diese Erkenntnis auf die Arbeitswelt, so bedeutet dies, dass Beschäftigte die Beurteilung ihrer Kompetenzen nicht nach ihren durchschnittlichen Leistungen richten, sondern sich von ihren besten Bewertungen leiten lassen. So kann insbesondere in beruflichen Entscheidungssituationen eine fehleranfällige Selbstwahrnehmung nachhaltig negative Konsequenzen haben. Auch so manches berufliches Potenzial wurde dadurch nicht genutzt.
Die Digitalisierung hat den globalen Wettbewerb zwar beschleunigt, aber gleichzeitig auch die Schaffung einer Vielzahl von neuen Arbeitsmodellen begünstigt. Der Corona-Lockdown wiederum hat diese auf den Trend der New Work abstellenden Modelle in der deutschen Arbeitswelt im großen Stil salonfähig gemacht. Bezogen auf den beruflichen Werdegang bedeutet dies, dass viele althergebrachte Karriere-Mythen zunehmend ins Abseits geraten. Immer mehr Beschäftigte wagen den Neuanfang – in manchen Branchen mehr als in anderen. Wer sich nicht weiter entwickeln kann oder unzufrieden mit der Arbeit, dem Chef oder den Kollegen ist, riskiert nicht selten den Jobwechsel.
Sind sich Beschäftigte dabei über ihre Bedürfnisse und Ziele im Klaren, so kann dieser Schritt durchaus fruchtbar sein. Schätzen diese ihre Talente hingegen falsch ein, kann er oder sie in eine berufliche Sackgasse geraten. Problematisch ist hierbei, dass der Mensch grundsätzlich darauf angelegt sei, sich stets ein positives Selbstbild aufzubauen, so der deutsche Wirtschaftspsychologe Uwe Kanning. Inwiefern sich das eigene Selbstbild mit der Realität deckt, lässt sich also nur im Austausch mit dem sozialen Umfeld klären.

Die Notwendigkeit des Austauschs mit dem sozialen Umfeld
In den individualisierten Gesellschaften von heute können Beschäftigte ihr Arbeitsleben nach Belieben gestalten. Nichtsdestoweniger wird es immer einige berufliche Weichenstellungen geben, die für lebenslange Pfadabhängigkeiten sorgen. So können zum Beispiel schon beim Berufseinstieg nachhaltige Fehler gemacht werden, wenn die persönlichen Interessen nicht zu den Talenten passen. Auch der österreichische Psychologe Aljoscha Neubauer weist darauf hin, dass Menschen eher schlecht darin seien, das Ausmaß ihrer Talente adäquat einzuschätzen.
Experten gehen zum Beispiel davon aus, dass extravertierte Menschen häufig dazu neigen würden, sich als kreativer und sprachbegabter einzuschätzen, als sie es nachweislich sind, während neurotische Menschen zum Gegenteil tendieren. Laut Williams gäbe es auch einen Geschlechterunterschied namens „Hubris-Humility-Effekt“: Demnach würden sich Männer tendenziell kompetenter fühlen, während Frauen eher dazu neigen, sich zu unterschätzen. Um die eigenen beruflichen Potenziale besser ausschöpfen zu können, ist es daher unerlässlich, die Selbstwahrnehmung um Inputs aus der sozialen Umgebung zu erweitern. Doch dieser Kommunikationsprozess sollte in beide Richtungen gehen.
Das soziale Umfeld eines Menschen besitzt die Macht, durch aufrichtiges und regelmäßiges Feedback Informationen zu vermitteln, die unter sonstigen Umständen nicht verfügbar gewesen wären. Eine Veranschaulichung der Notwendigkeit derartigen Feedbacks bei beruflichen Entscheidungen liefert unter anderem das sogenannte „Johari-Fenster“ der US-amerikanischen Sozialpsychologen Joseph Luft und Harry Ingham. Diese teilen die menschliche Persönlichkeit in vier Felder ein – ausgehend von dem Wissen, das einem selbst und der sozialen Umwelt verfügbar ist:
1. Öffentliche Person: Inputs, die einem selbst und dem Umfeld bekannt sind.
2. Private Person: Inputs, die einem selbst bekannt und dem Umfeld unbekannt sind.
3. Blinder Fleck: Inputs, die einem selbst unbekannt und dem Umfeld bekannt sind.
4. Unbekannte Potenziale: Inputs, die einem selbst und dem Umfeld unbekannt sind.
Was die unbekannten Potenziale eines Menschen betrifft, darüber lässt sich nur spekulieren. Von besonderem Interesse sind jedoch sowohl die Informationen, die andere Menschen über einen selbst haben, als auch die Informationen, die man selbst zurückhält. Beides ist für eine Erweiterung der Selbstwahrnehmung von Bedeutung. Denn das Wissen, das Andere über einen selbst haben, kann den „blinden Fleck“ bei der Selbstbeurteilung minimieren. Gleichzeitig kann die Bereitschaft, fortwährend neue Informationen über die eigene Person preiszugeben, dazu beitragen, neue Feedback-Prozesse anzustoßen.
Diesbezüglich gibt es einige Johari-Fenster-Übungen. Eine offene Empfangs- und Sendebereitschaft kann letztendlich dabei helfen, Selbst- und Fremdwahrnehmung besser aufeinander abzustimmen, wodurch sich neue Handlungsspielräume ergeben. Doch allen Versuchen der Selbstoptimierung zum Trotz wird sich nie endgültig erschließen lassen, welche unbekannten Potenziale noch hätten verwirklicht werden können.
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