Beim Thema „Integration“ geht es üblicherweise um die gesellschaftliche Eingliederung von Menschen mit Migrationshintergrund. Doch betrachtet man den Begriff allgemeiner, so ergibt sich ein viel größeres Spektrum an Förderpotenzialen – beispielsweise die unerschlossenen Potenziale von Analphabeten. Im Jahre 2018 waren immerhin 6,2 Millionen Menschen davon betroffen. Etwa jeder achte Erwachsene in Deutschland hat hiermit tagtäglich zu kämpfen. Scham und Vorurteile stehen für viele von ihnen auf der Tagesordnung. Doch schlummern in ihnen auch ungeahnte Potenziale, die zielgerichteter gefördert werden könnten. Die Betroffenen wiederum kostet es oft ein hohes Maß an Überwindung. Was wir brauchen, sind also nicht nur mehr Investitionen in Sachen Sprachförderung, sondern auch eine systematische Enttabuisierung von Analphabetismus in Deutschland.
Unerschlossene Potenziale von Analphabeten: Wenn Schüler aus dem Raster fallen
Analphabetismus ist ein Massenphänomen. Im Unterschied zum Krankheitsbild Legasthenie hat es keine biologisch-genetischen Ursachen, sondern ist eher das Ergebnis ungünstiger schulischer und sozialer Verhältnisse. Analphabeten gibt es sowohl in ärmeren Regionen der Welt als auch im wohlhabenden Deutschland. Weltweit am meisten von ihnen gibt es laut statista.de in den afrikanischen Ländern Tschad mit über 77 Prozent und Südsudan mit über 73 Prozent (prozentualer Anteil an der Gesamtbevölkerung von 2008 bis 2018). Dabei dominieren Subsahara-Afrika, Südasien sowie die arabischen Staaten das internationale Analphabetismus-Ranking, wovon vor allem Frauen und Mädchen benachteiligt sind. In Deutschland hingegen seien es eher Männer. Dies ergab die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte „LEO-Studie“ der Universität Hamburg aus dem Jahr 2018. Demnach können in der Bundesrepublik 6,2 Millionen Menschen bzw. 12,1 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung nicht oder nur unzureichend lesen und schreiben.

Die Zahlen und Fakten der Studie lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
- Geschlecht: Mit 58,4 Prozent sind mehr Männer betroffen.
- Alter: Die Betroffenen sind größtenteils über 45 Jahre.
- Bildungshintergrund: Über 60 Prozent besitzen keinen oder einen niedrigen Bildungsabschluss.
- Erwerbstätigkeit: Etwa 60 Prozent der Betroffenen sind erwerbstätig.
Diese Ergebnisse zeigen, dass es essenziell ist, Grundlagen des Lesens und Schreibens bereits in der Schulzeit zu erwerben, da Versäumnisse im weiteren Verlauf des Lebens üblicherweise nicht mehr ausgeglichen werden. Die Konsequenz: Viele Betroffene führen auf dem Arbeitsmarkt nur Helfertätigkeiten aus. Dadurch besteht für viele einerseits die Gefahr, dass ihre Arbeit im Laufe der Zeit dem Strukturwandel der Berufslandschaft zum Opfer fällt, und andererseits fühlen sich viele von ihren Mitmenschen nicht genug wertgeschätzt – ungerechtfertigterweise. Ralf Häder, Geschäftsführer des Bundesverbands Alphabetisierung und Grundbildung, bestätigt in einem Interview mit web.de sogar, dass viele Analphabeten ein fast schon fotografisches Gedächtnis und einen genauen Blick für Menschen und Umgebungen hätten. Schließlich müssen sie ihren Alltag durch clevere Tricks bewältigen. Diese Erkenntnisse sollten Unternehmen in Sachen Arbeitsmarktintegration zu bedenken geben. Doch braucht es hierfür Förderungen, die den verschiedenen Analphabetismus-Typen entsprechen: Primäre (ohne Grundkenntnisse), sekundäre (Grundkenntnisse verlernt) und funktionale (nicht dem Standard der Gesellschaft entsprechend) Analphabeten. Was wir also brauchen, ist eine systematische Sprachförderung mit passendem Einstiegslevel für alle Altersgruppen. Die bisherigen Möglichkeiten nutzen nur die wenigsten.

Für mehr bundesweite Bildungsstandards von Politik und Wirtschaft
In der Schule war jeder einmal. Doch nicht alle Schüler wurden ihren Bedürfnissen entsprechend behandelt. Wer beim Lernen durchs Raster fällt, hat häufig mit Ängsten, Ausgrenzung und einem zu hohen Lerndruck zu kämpfen. Die Ursachen hierfür sind vielfältig: Viele Lehrer seien einfach nicht hinreichend qualifiziert, um Kinder mit Problemen beim Lesen und Schreiben angemessen zu unterrichten, so der Bamberger Kognitionspsychologe Prof. Dr. Jascha Rüsseler auf spiegel.de. Darüber hinaus fehle es oft auch an der Kreativität und der Zeit. Kleinere Klassen und eine individuellere Betreuung mit Methodenvielfalt seien in puncto Sprachförderung das beste Mittel, so der Kinderbuchautor Tim-Thilo Fellmer in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur. Der ehemalige Analphabet weiß, dass Lernprozesse nicht von negativen Gefühlen begleitet werden sollten, da ansonsten die persönliche Entfaltungsfreiheit auf der Strecke bleibt und das Schamgefühl bezüglich eigener Defizite wächst. Hieran sollte eine systematische Enttabuisierung von Analphabetismus anknüpfen. Darüber hinaus brauchen wir mehr Pluralität in Bildungseinrichtungen, damit weder Kinder noch Erwachsene bei ihren Bildungsbemühungen abgehängt werden. Hierfür sind jedoch länderübergreifende Standards und eine fortwährende Qualitätskontrolle des Lernerfolgs unabdingbar, bei der sich Politik und Wirtschaft gleichermaßen angesprochen fühlen sollten.

Analphabeten betrachten sich häufig als Außenseiter. Um an eigenen Defiziten zu arbeiten, fehlt es vielen nicht nur an Zeit und Geld, sondern auch an den Möglichkeiten. Wer den ersten Schritt geschafft und sich beispielsweise bei der anonymen Beratungshotline „Alfa-Telefon“ vorstellig gemacht hat, wird schnell feststellen, dass jedes Bundesland und jede Kommune eigene Bildungslösungen anbietet. Wenn es um die Literalität von Bürgern insbesondere aus prekären Verhältnissen geht, sind Länder wie Kanada und die Niederlanden Best-Practice-Beispiele. Auch in Deutschland bräuchten wir mehr modellhafte Ansätze zur Optimierung von Integration im Bildungsbereich. Neben einheitlichen Qualitätsstandards für Lehrer könnten unter anderem Arbeitsagenturen und Jobcenter in die Pflicht genommen werden, passgenaue und möglichst kostenfreie Kurse zur Sprachförderung anzubieten bzw. zu vermitteln. Ferner sollten auch Unternehmen es als Chance interpretieren, eine Vorreiterrolle einnehmen zu können und die Talente von Analphabeten gezielt zu fördern, indem auch sie unter anderem maßgeschneiderte Förderprogramme anbieten. Dadurch könnten sie sich langfristig sogar Vorteile im „War for Talents“ sichern. Doch gewähren sie ihren Teilnehmern dadurch vor allem eines: Mehr Lebensqualität.
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