Gesundheit als neues Statussymbol? Über digitale Selbstvermessung und virtuelle Doppelgänger

Junge Frau strotzt vor Gesundheit und streckt sich in der Natur

Für den Menschen des 21. Jahrhunderts hat die Gesundheit einen besonderen Stellenwert. Gesundheitsthemen haben auf der Agenda von Politik und Medien mittlerweile einen festen Platz eingenommen. Sie nehmen dabei immer individuellere Züge an und gehen auch auf den steigenden Anspruch vieler Menschen nach Konnektivität ein. Beflügelt vom Wunsch nach Selbstoptimierung stoßen in der digitalen Gesellschaft von heute vor allem Self-Tracking-Technologien auf eine breite Akzeptanz. Parallel schreitet die Forschung im Bereich der Virtuellen Physiologie des Menschen voran, die für die Zukunft „virtuelle Doppelgänger“ für jedermann in Aussicht stellt. Damit bahnt sich eine Revolution des Gesundheitswesens an, die jedoch eine Herrschaft von Gesundheitsdaten zur Folge haben könnte. Die Risiken und Nebenwirkungen einer solchen Technologie sind bis jetzt noch nicht komplett absehbar.

Gesundheit als Megatrend des 21. Jahrhunderts und was ihn begleitet

Im Allgemeinen legt der Mensch des 21. Jahrhunderts auf seine Gesundheit sehr viel Wert. Die Trendforscherin Corinna Mühlhausen vom Thinktank „Zukunftsinstitut“ geht sogar davon aus, dass viele Gesellschaften seit einiger Zeit eine Art Idealbild der Keimfreiheit kultivieren würden – und das bereits vor dem Corona-Ausbruch. Tatsächlich scheint die eigene Gesundheit im Laufe der Jahre zu einem neuen Statussymbol avanciert zu sein. Diesen Befund untermalt unter anderem auch der von den Unternehmen Kantar und Trendbüro herausgebrachte „Werte-Index 2020“. Die Corona-Pandemie hat diesen Trend wohl lediglich verstärkt. Mehr als jemals zuvor zeigt sich, dass die eigene Gesundheit eine Voraussetzung für die Teilhabe am Alltagsleben – sowohl im beruflichen als auch im privaten Kontext – ist. Die heutigen Technologien erlauben es diesbezüglich, sich der eigenen Gesundheitsoptimierung großzügig hinzugeben, da sie insbesondere dabei helfen, sämtliche Körperregungen minutiös zu dokumentieren. Mühlhausen bringt in ihrem Health Report 2020 diesen Trend mit einem gestiegenen Sicherheitsbedürfnis in Verbindung – flankiert vom Anspruch vieler Menschen nach individuelleren Formaten.

Eine Frau und ein Mann laufen gemeinsam Treppen

Das steigende Bedürfnis nach gesundheitlicher Selbstoptimierung spiegelt sich nach und nach auch in den Leistungen und in der Organisation unserer Gesundheitssysteme wider. Der menschliche Körper wird zunehmend als Datenquelle betrachtet. Im Bereich der Quantified-Self-Technologien liefert der Trend zur Human Augmentation ein großes Anwendungsfeld. Zur digitalen Selbstvermessung werden unter anderem Gesundheits-Apps und Wearables mit Sensoren genutzt, welche das systematische Sammeln von Gesundheitsdaten ermöglichen bzw. erleichtern. Messen lässt sich neben dem individuellen Bewegungs-, Ernährungs- und Schlafverhalten auch das Gewicht, die Herz- und Pulsfrequenz sowie die jeweilige Stimmung. Idealerweise erhält der Nutzer durch die Messung und Auswertung dieser Informationen ein höheres Gesundheitsbewusstsein, das zu einer Art „Selbstexpertisierung“ in Bezug auf den eigenen Körper führt. Mit diesem Selbstverständnis lassen sich wiederum weitere Entwicklungen anstoßen – beispielsweise in der Medizin und Wirtschaft. Womöglich können solche Self-Tracking-Daten in absehbarer Zeit sogar in virtuelle Avatare übertragen werden. Denn Forscher versuchen bereits, den menschlichen Körper datentechnisch zu reproduzieren.

Wenn die personalisierte Medizin zur Herrschaft der Daten führt

Die Wirkung gängiger medizinischer Heilmittel und Heilverfahren fällt von Individuum zu Individuum unterschiedlich aus. Dies liegt vermutlich auch daran, dass lange Zeit der männliche Organismus als Ausgangspunkt für Forschungen diente. Digitale Technologien geben nun Hoffnung auf ein Gesundheitswesen, das sich mehr am individuellen Patientenwohl orientiert. Smart-Hospitals und andere digitale Meilensteine werden somit langfristig unabdingbar. Dabei tragen insbesondere Self-Tracking-Tools zu einer persönlicheren Gesundheitsoptimierung bei, wenngleich sie eine digitale Selbstüberwachung implizieren. Sämtliche Kontrollbefürchtungen auf die Spitze treiben Forschungen im Bereich der Virtuellen Physiologie des Menschen, welche das Ziel haben, dem Menschen von morgen einen aus Bits und Bytes bestehenden Zwilling zu liefern. Dieser Zwilling soll den eigenen Körper mit seinen Prozessen und Strukturen perfekt simulieren können, wodurch sich Medikamente und Therapieverläufe individueller anpassen ließen. Außerdem wären dadurch auch Krankheitsverläufe und Operationen besser abschätzbar. Sollte diese Forschung nachhaltig Früchte tragen, wird dies eine Revolution des Gesundheitswesens zur Folge haben. Doch erreicht die Macht der Gesundheitsdaten mit dieser Technologie zwangsläufig ein neues Level.

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Treten Beschwerden auf, konzentriert sich die Medizin normalerweise nur auf einzelne Körperbereiche. Beim Konzept des „virtuellen Doppelgängers“ wird jedoch der menschliche Körper als ein ganzheitliches System betrachtet. Ein virtueller Zwilling könnte sein menschliches Äquivalent dabei unterstützen, gesünder zu leben, so Prof.Peter Coveney vom CompBioMed-Exzellenzzentrum am University College in London. Im Rahmen seiner von der EU-finanzierten Forschungen werden unter anderem genomische und organspezifische Daten erhoben und systematisch zu digitalen Avataren zusammengefügt – ein Vorgeschmack auf die personalisierte Medizin der Zukunft. Um aber diese Technologie irgendwann tatsächlich flächendeckend umsetzen zu können, werden wir enorme Rechenleistungen benötigen. Das heißt: Wir bräuchten in Deutschland mehr Super-Computer des Kalibers Hawk (in Stuttgart) und SuperMUC-NG (in Garching bei München) – den derzeit leistungsstärksten Computern der Bundesrepublik. Im Zuge der Etablierung einer solchen Technologie sind ferner die Gefahren durch Datenmissbrauch und Diskriminierung zu diskutieren, wofür auch ein erweitertes Verständnis von Datenschutz, der für humangenetische und personenbezogene Daten gleichermaßen greift, notwendig wird. Die Frage, ob sich die Individualität des Menschen auf konkrete Datenmengen abstrahieren lässt, wird womöglich für noch tiefgreifendere Kontroversen sorgen.

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