Das Thema Fachkräftemangel wird nach wie vor als das Kernproblem deutscher Unternehmen – neben Brexit und Trump – angesehen. Wer kennt sie nicht, die unaufhörliche Klage vom Fachkräftemangel? Dabei gibt es derzeit (Stand vom Juni 2019) keinen flächendeckenden Mangel an Fachkräften, so das Urteil der Bundesagentur für Arbeit. Was auch heute nur vereinzelte branchenspezifische bzw. regionale Engpässe sind, wird von Lobbyisten und Politikern gerne noch zu einem weitreichenden Problem deklariert. Der deutschen Wirtschaft fehlen jedoch aktuell vor allem Praktiker – nicht nur Studierende. Der scheinbar omnipräsente Fachkräftemangel sollte daher so dargestellt werden, wie er tatsächlich ist: Ein Fehlen von Fachkräften und Spezialisten nicht nur in MINT-Berufen, sondern vor allem in Berufssparten, die in den allgemeinen Diskurs kaum Eingang finden.
Über konstruierte und tatsächliche Mängel an Fachkräften
Der Trend, ein Studium aufzunehmen, scheint heutzutage immer noch ungebrochen. Logischerweise nimmt daher die Anzahl an Studienabschlüssen von Jahr zu Jahr rasant zu. Während laut statista.com im Jahre 2005 noch etwa 250.000 Abschlüsse zu verzeichnen waren, erreichte man im Jahre 2017 bereits über eine halbe Million. Angesichts der steigenden Akademikerquote sprechen manche Kritiker von einem „Akademisierungswahn“, wohingegen einige Arbeitsmarktforscher prognostizieren, dass die Wirtschaft auch weiterhin viele Akademiker brauchen würde. Und diese Prognose scheint gar nicht so abwegig zu sein, weil in absehbarer Zeit die Automatisierung zahlreiche Arbeitsplätze bedroht – insbesondere in den Berufsfeldern Fertigung und Fertigungstechnik. Anders sieht es wiederum bei Gastronomie-, Gesundheits- und Sicherheitsberufen aus. Vor allem ländliche Regionen der Bundesrepublik haben hier ein zum Teil beachtliches Defizit vorzuweisen.
Auch im Jahr 2019 gibt es keinen flächendeckenden Fachkräftemangel in Deutschland. Zu dieser Erkenntnis kam eine aktuelle Fachkräfteengpassanalyse der Bundesagentur für Arbeit (Stand vom Juni 2019). Einzelne Engpässe wies die Untersuchung lediglich in bestimmten Berufsfeldern – überwiegend in Bauberufen und, wie erwartet, in Gesundheits- und Sozialberufen – nach. Einen konkreten, nahezu bundesweiten Mangel an qualifiziertem Personal gebe es laut Einschätzung der Bundesagentur schwerpunktmäßig in folgenden Berufen:
- Altenpfleger (Fachkräfte und Spezialisten)
- Berufskraftfahrer (Fachkräfte)
- Energietechniker (Fachkräfte)
- Klempner Heizungs-, Klima- und Sanitärtechniker (Fachkräfte und Spezialisten)
Neben diesen Berufsgruppen kann es auch bei der Besetzung hochspezialisierter Einzelberufe – dazu zählen insbesondere Berufe in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik (MINT) – zu Mangelerscheinungen kommen. Alles in allem konzentriert sich der tatsächliche Fachkräftemangel jedoch nicht nur auf Akademiker, denn mehr Zulauf benötigen vor allem praktische Berufe, die keine starke Lobby hinter sich haben.
Zur Entstehung eines bildungspolitischen Narrativs
Das deutsche Bildungssystem bringt gegenwärtig ein immer größeres Aufgebot an Akademikern hervor, während die deutsche Wirtschaft vor allem einen Mangel an beruflich ausgebildeten Fachkräften zu beklagen hat. Die Ursachen hierfür sind vielschichtig: Begonnen hat es vermutlich mit der OECD, da diese vor über 10 Jahren dem deutschen Staat suggerierte, die Anzahl an Akademikern in Deutschland würde zu langsam steigen – auch weil der Staat zu wenig Geld für Bildung bereitstelle. Diese Feststellung ist seitdem ein fester Bestandteil der medialen Berichterstattung. Thematisiert wird in diesem Zusammenhang häufig auch der demografische Wandel und seine Folgen für den Arbeitsmarkt. Dieser hat jedoch vor allem im Bereich der ländlichen Berufsbildung große Lücken entstehen lassen. Zwar gibt es einige Maßnahmen, um den Fachkräftemangel auf dem Land aufzuhalten, jedoch liegt die Ursache ländlicher Engpässe auch im Denken der Menschen selbst begründet. Schuld ist das gesellschaftliche Wertungsungleichgewicht zwischen beruflicher Bildung und Studium.
Der Begriff „Fachkräftemangel“ kann grundsätzlich als ein bildungspolitisches Narrativ verstanden werden, welches – von Wirtschaftsakteuren entworfen – die bundesweiten Bildungsangebote an die Bildungsbedürfnisse der Wirtschaft anpassen sollte. Durch die Etablierung dieses Begriffs gelang es wirtschaftspolitischen Lobbyisten, personaltechnische Nachfragen der Wirtschaft in Bildungsbedarfe umzuformulieren. Ferner war es ihnen dadurch möglich, nicht nur die Kosten, sondern auch die Verantwortung für jene fachkräftetechnischen Problemlagen zu externalisieren. Das Ergebnis war und ist eine „selbsterfüllende Prophezeiung“: Die Debatte um den Fachkräftemangel begünstigt(e) wiederum dessen Plausibilität und führt(e) zu einer vermehrten Kooperation von Bildungs- und Wirtschaftsakteuren, was die impliziten Machtverhältnisse zwischen denselbigen reproduziert(e).
Der Fachkräftemangel ist somit keine Illusion, er existiert tatsächlich – jedoch nicht nur in MINT-Berufen, sondern insbesondere in nicht-akademischen Berufssparten und im ländlichen Raum. Die Verantwortung hierfür sollten nicht nur Bildungsakteure und Politiker, sondern auch die Wirtschaft als Ganzes tragen. Ferner müssen von Engpässen betroffene Firmen langfristig neue Arbeitsmarktressourcen erschließen: Sei es beispielsweise die arbeitstechnische Integration von Zuwanderern oder Zugeständnisse in puncto familienfreundliches Arbeiten bzw. bei der Gestaltung des Arbeitsalltags. Auf diese Weise können Unternehmen langfristig wettbewerbsfähig bleiben, ohne ihre Personalpolitik in die Hände des Staats legen zu müssen.
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