Die Gier nach Neuem – Warum sie aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken ist

Neugieriger Typ schaut mit einem Fernglas durch eine Jalousie

Im Mittelalter war es noch verpönt, neugierig zu sein. Im 21. Jahrhundert jedoch hat die Neugier, Antriebskraft für sämtliche Entdeckungen der Menschheitsgeschichte, Hochkonjunktur – wenn auch nicht ganz ohne Geschmäckle. Denn während die Gier nach Neuem jahrhundertelang ein notwendiges Bedürfnis war, um sich widriger Lebensumstände zu entledigen, ist sie heutzutage zu einer regelrechten Begierde avanciert. Mehr noch: Mit der menschlichen Neugier lassen sich gute Geschäfte machen – seien es Konzerne, die ihre Produkte überschwänglich bewerben, oder (soziale) Medien, die mit Posts und Schlagzeilen unentwegt um unsere Aufmerksamkeit buhlen. Der Mensch von heute sehnt sich mehr denn je nach ständig neuen Inputs – womöglich auch wegen der Endorphine, die ein neuronaler Jubel freisetzt. Die menschliche Neugier ist jedoch ein ambivalentes Phänomen und ist nicht selten auch mit Ängsten und Sorgen verbunden. Wer seinen Wissensdurst nicht nur besänftigen möchte, sollte daher rasch lernen, ihn zu steuern.

Vom notwendigen Bedürfnis zur kollektiven Begierde

Grundsätzlich sehnen sich alle Menschen hin und wieder nach Neuartigem – nach neuen Erfahrungen, Habseligkeiten, Situationen oder auch nach neuen Zielen. Ein gewisses Maß an Neugier ist also normal, denn neue Inputs suggerieren den Menschen Sicherheit. Sei es, um der „Banalität des Alltags“ zu entfliehen, oder zum Zwecke der Selbstentfaltung – die Gier nach Neuem hat viele Gesichter. Wie offen eine Person für neue Erfahrungen ist, hängt von der Ausprägung der Persönlichkeitsdimension „Offenheit für Erfahrungen“ ab – eines der „Big Five“ aus der Persönlichkeitspsychologie. Der menschliche Wissensdurst ist somit ein angeborenes Bedürfnis. Schließlich kann man schon bei Kindern die Lust am spielerischen Lernen von neuen Wissenselementen beobachten. Doch unsere Neugier hat sich über die Jahrhunderte weiterentwickelt. Während sie den Tieren nach wie vor als Überlebensstrategie dient, ist sie bei uns Menschen mittlerweile zu einer kollektiven Begierde geworden.
Ein kleines Mädchen lernt spielerisch in einem Spielzimmer
Das menschliche Begehren kann die verschiedensten Formen annehmen. Während ein Bedürfnis aus einer Notwendigkeit heraus begründet ist, geht eine Begierde über das Bedürfnis der bloßen Reproduktion hinaus. Eine Begierde entspringt somit keiner unmittelbaren Not, sondern ist ein zielgerichtetes ästhetisches Streben. Ein solches Streben liegt auch der Neugier zugrunde. Diese wird in der heutigen Welt mittlerweile radikal kultiviert. Bereits im Jahre 1836 bemerkte der britische Schriftsteller Thomas Hood: „Es gibt drei Dinge, nach denen die Öffentlichkeit früher oder später schreit: Neuheiten, Neuheiten, Neuheiten“. Der Philosoph Martin Heidegger würde hier sicherlich beipflichten. Im 21. Jahrhundert hat die Gier nach Neuem ganz neue Dimensionen angenommen. Dem heutigen Individuum fällt es schwerer denn je, seiner eigenen FOMO-Tretmühle zu entkommen. Das Schlagwort „Fremdbestimmung“ wird hierbei gerne genannt. Dabei diente die Neugier doch einst als eine Art Kompass, der das Ich-Bewusstsein zwar navigierte, aber der auch selbst gesteuert werden konnte.

Über die Ambivalenz der Neugier und die „Entzauberung“ der Welt

Lange Zeit galt die Neugier als ein Laster oder sogar als „andachtsferne Lust“, wie sie der Kirchenvater Augustinus bezeichnete. Erst in der Neuzeit und im Rahmen der großen Entdeckungen wurde das unermüdliche Streben nach neuen Erkenntnissen zum Lebensprinzip hochstilisiert. Doch die Neugier wird seit jeher von einem bitteren Beigeschmack begleitet: Sie verlangt nach stetig neuen (flüchtigen) Reizen, die schon bald ihre Aktualität einbüßen müssen. Die Gier nach Neuem ist somit unersättlich, da keine neue Erkenntnis den menschlichen Wissensdurst nachhaltig zu stillen vermag – vor allem heutzutage angesichts einer medialen Reizüberflutung. Konsequenterweise spricht der Neurowissenschaftler Irving Biederman diesbezüglich von einer erhöhten Suchtgefahr – der Mensch von heute ist regelrecht süchtig nach körpereigenen Opiaten (Endorphine), die bei der „Jagd nach Neuem“ freigesetzt werden. Ist das Neue jedoch mit Anstrengungen, Unsicherheit oder Verlusten verbunden, rudern wir oft zurück und werden für den sogenannten „Status-Quo-Bias“ anfällig. Dann geht es darum, das zu konservieren, was man bereits besitzt und weiß.
Menschenmassen auf dem Timesquare in New York City
Im Arbeitsalltag werden Neuerungen häufig gefürchtet – beispielsweise, wenn sich Restrukturierungsmaßnahmen ankündigen oder wenn die Automatisierung des Arbeitsplatzes droht. Ferner trägt eine ausgeprägte Neugier bei Mitarbeitern nicht selten zur Unbeliebtheit derselbigen bei, so der Soziologe Hans-Peter Müller. Ein scheinbares Paradoxon: Schließlich sind in der Wirtschaftswelt doch nach wie vor kommunikative Skills und ein gewisses Maß an Extrovertiertheit beliebt. Was jedoch durchschimmert: Wer neugierig ist, muss selektiv vorgehen, denn nicht jede verfügbare neue Information sollte „durchgekaut“ werden. Vielmehr gilt es, sich auf Dinge zu konzentrieren, die einen „gehaltvollen“ Mehrwert versprechen. Es geht also um die Fähigkeit zum zielgerichteten Fokussieren bei der Informationsaufnahme. In diesem Zusammenhang lohnt es sich auch, individuell herauszufinden, wann Phasen der Entschleunigung im Alltag angebracht sind und welche alltäglichen Angelegenheiten ihren „Glanz des Unbekannten“ nicht verlieren sollten. Schließlich gibt es „Stellschrauben“ im Leben, die keiner „Entzauberung“ bedürfen.

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