Für die aktuelle Corona-Krise gibt es kein Patentrezept. Auch die deutsche Politik muss an dieser Stelle eine Balance finden zwischen der Verringerung der Reproduktionszahl auf der einen und der Abmilderung von Frust bei den Bürgern auf der anderen Seite. Das deutsche Krisenmanagement erhält derzeit weltweiten Zuspruch. Doch angesichts der wochenlangen starken Einschränkungen wächst der Unmut in der deutschen Bevölkerung und Wirtschaft zunehmend. Dabei wird auch diskutiert, ob der ungleich liberalere Umgang Schwedens mit der Corona-Pandemie sich möglicherweise auf Deutschland übertragen ließe. Wenngleich der schwedische Sonderweg eher paradigmatisch für die nordische Mentalität steht, so hält er doch einige Erkenntnisse für uns bereit.
Die deutschen Maßnahmen: Frust trotz positiver Zwischenbilanz
Über das Krisenmanagement Deutschlands wird weltweit diskutiert. Für die deutsche Regierung gibt es dabei nicht nur Lob, sondern auch Kritik – insbesondere aus dem eigenen Land. Die in der Bundesrepublik durchgesetzten Maßnahmen zur Eindämmung des Virus basieren größtenteils auf Expertenmeinungen, was von den meisten Bürgern lange Zeit akzeptiert wurde. Doch der Unmut in der deutschen Bevölkerung und Wirtschaft wächst mittlerweile kontinuierlich, denn die bundesweiten Einschränkungen im Rahmen der Corona-Pandemie stellen vor allem den deutschen Mittelstand vor unerwartet große Herausforderungen. Es besteht Unklarheit darüber, welche Wege die Politik in den nächsten Monaten einschlägt, was die Zukunftsplanung von Mensch und Unternehmen erheblich erschwert. Daher kommt es jetzt mehr denn je auf gelungene Kommunikation und Sendungsbewusstsein an. Schließlich stoßen die deutschen Maßnahmen zunehmend auf Widerstand, was auch die steigende Anzahl an Corona-bezogenen Demonstrationen und Gerichtsverhandlungen unterstreicht. Ein Vergleich mit anderen Ländern Europas zeigt, dass es prinzipiell möglich wäre, für die Gesellschaft und Wirtschaft auch hierzulande ein höheres Maß an Planbarkeit zu schaffen.

In Zeiten, in denen sich Menschen zutiefst verunsichert fühlen, steigt zwangsläufig der Wunsch nach einer starken Regierung, die Gewissheiten schafft und Schutz vermittelt. Das Gesundheitswesen der Bundesrepublik hat die allererste Welle der COVID-19-Infektionen im internationalen Vergleich relativ glimpflich überstanden und kann bis heute sogar Patienten aus anderen europäischen Ländern behandeln. Auch der internationale Zuspruch lässt zunächst auf eine positive Zwischenbilanz hinsichtlich der deutschen Maßnahmen schließen, doch werden Spekulationen darüber, inwieweit die einzelnen Einschränkungen überhaupt notwendig waren bzw. noch sind, immer lauter. Es kristallisiert sich dabei heraus, dass der Faktor Mensch, wie es aktuell erscheint, bisher noch nicht hinreichend in die strategischen Erwägungen der deutschen Politik miteinbezogen wurde. Denn mittlerweile wird deutlich, dass die seit März bestehenden strengen Maßnahmen bei vielen Bürgern das psychologische Abwehrbedürfnis der Reaktanz aktivieren. Eine solche Entwicklung der Zustimmungswerte versucht hingegen die schwedische Regierung von Anfang an zu verhindern. Ihre Corona-Strategie beruht vielmehr auf den Prinzipien der Freiheit und Selbstverantwortung.

Das Schweden Modell und die nordische Mentalität
Den Schweden wird nachgesagt, sehr freiheitsliebend zu sein. Daher wird dort auch mit Pluralismus und Unsicherheiten toleranter umgegangen als in Deutschland. Gemäß dem Lebensprinzip „Lagom“ (im Sinne von „stets die goldene Mitte suchen“) bleibt es den Bürgern Schwedens im Zuge der Pandemie – neben einigen Empfehlungen und Verordnungen – weitestgehend selbst überlassen, wie sie sich verhalten. Daher hat sich der Alltag im Königreich Schweden bis heute nicht wesentlich verändert: Cafés, Geschäfte, Restaurants und zum Teil auch Schulen sind weiterhin geöffnet. Ausgangsbeschränkungen gibt es nicht. Indem sie ihren Bürgern einen Vertrauensvorschuss gewährt, versucht die schwedische Regierung auf ihre Weise, auf die Echoräume der Unsicherheit ihrer Bevölkerung einzugehen. Dies ist auch deswegen möglich, weil das dünn besiedelte Schweden nur knapp über 10 Millionen Menschen und eine hohe Anzahl an Single-Haushalten beherbergt. Ferner weisen die Schweden auch eine ausgeprägte Offenheit gegenüber der Digitalisierung auf. Schließlich besitzen nicht nur 95 Prozent (im Jahre 2019 laut Statista) der schwedischen Haushalte einen Breitband-Internetzugang, sondern es lassen sich dort auch schon seit Jahren zahlreiche Behördengänge und Ferndiagnosen von zu Hause aus erledigen bzw. einholen.

Ungeachtet der internationalen Kritik unterstützen die allermeisten Schweden die Corona-Strategie ihrer Regierung bzw. des führenden Epidemiologen Nils Anders Tegnell. Von der sogenannten „Hammer und Tanz“-Strategie, wie sie beispielsweise Deutschland vertritt, nehmen sie bewusst Abstand. Vor diesem Hintergrund wird die schwedische Regierung so lange wie möglich vermeiden, die Freiheit ihrer Bürger zu stark einzuschränken. Den Menschen wird hingegen ein hohes Maß an Verantwortung für sich selbst und die Gesellschaft als Ganzes zugetraut. Auf diese Weise wird automatisch die Entstehung von übermäßig reaktantem Verhalten innerhalb der schwedischen Bevölkerung verhindert. In Deutschland folgen nun auf die Phase der starken Einschränkungen erste Lockerungen. Es bleibt abzuwarten, welche Maßnahmen als nächstes aufgelockert werden. Womöglich können wir – wenn überhaupt – erst nach dem Abflauen der Pandemie sicher sagen, welche Corona-Strategien nun besser oder schlechter waren. Bis dahin sollte auch die deutsche Regierung weiterhin Beständigkeit und Integrität zeigen, wozu auch das Aushalten von Meinungsdifferenzen gehört. Doch vielleicht lohnt es sich, den Bürgern Deutschlands im Zuge von Lockerungen zukünftig etwas mehr Vertrauen entgegenzubringen?
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