In jeder Firma gibt es Abläufe und Maßnahmen, welche die formalen Regeln überschreiten, um die Unternehmensziele schneller zu erreichen und effizienter für Stabilität zu sorgen. Dass ein gewisses Maß an Regelverstößen zum Unternehmensalltag dazugehört, haben uns in der Vergangenheit nicht nur die großen deutschen Automobilkonzerne bewiesen. Welche Lehren zogen diese aus ihren Skandalen? Sie suchten nach Verantwortlichen und enthoben diese ihres Postens. Doch derartige Verstöße wird es wohl immer wieder geben, weil die zugrundeliegende Problematik nicht in Angriff genommen wird: Unternehmen sind Systeme, deren primäres Interesse darin besteht, sich selbst zu erhalten.
Wenn „Dienst nach Vorschrift“ nicht reicht
Jedes Unternehmen besitzt offizielle Regeln, an die sich alle Beschäftigten natürlich halten sollten. Würden sich jedoch alle danach richten und stünde „Dienst nach Vorschrift“ an der Tagesordnung, dann würden womöglich viele Abläufe im Betrieb nur noch mit eingeschränkter Effektivität funktionieren. Jede Organisation entwickelt daher aus zahlreichen, erprobten Regelabweichungen zusätzlich noch ein inoffizielles Regelwerk. Dieses hat das Funktionieren sowohl der offiziellen Regeln als auch des Systems als Ganzes zum Ziel. Hierbei geraten jedoch nicht selten formale und informale Erwartungen in Konflikt miteinander. Da Regelverstöße üblicherweise nicht einfach angeordnet werden, sondern sich einschleichen, werden diese sozusagen ganz nebenbei zum Normalzustand.
Soziale Systeme – sowie auch etwaige Untersysteme – haben ihre jeweils eigene Normordnung und streben vorrangig nach Selbsterhaltung. Deswegen muss sich jedes System auch von seiner Umwelt abgrenzen. Diese Theorie vertritt der deutsche Soziologe Niklas Luhmann, dessen Gesellschafts- und Systemtheorien selbst in der heutigen Zeit noch Anwendung finden. Laut Luhmann sei es rational, dass jedes soziale Gefüge zwangsläufig Leistungsmöglichkeiten erschließen muss, die zwar für den Zweck der eigenen Reproduktion sinnvoll sind, aber nicht unbedingt für den Einzelnen oder die Umwelt. Er schlussfolgert daraus, dass ein gewisses Maß an Normabweichungen in sozialen Systemen unvermeidlich sei, um deren Mitgliedern kreativen Raum zu geben, sich den Vorgaben der Umwelt anzupassen.
Die menschliche Angst vor Ablehnung
Der Mensch ist ein Herdentier und besitzt eine urtümliche Angst vor Ausgrenzung. Wenn ein Mitarbeiter in Ihrem Unternehmen beispielsweise zu erkennen gibt, dass er die an ihn gerichteten Erwartungen langfristig nicht erfüllen kann oder will, so sind seine Mitmenschen dazu geneigt, entweder die eigenen Erwartungen an diesen zu ändern oder die Beziehung zu ihm nicht fortzusetzen. Hierbei wird deutlich, warum eine Gruppe von Beschäftigten, in welcher offenkundig brauchbare, illegale Verhaltensweisen – gestützt von einem inoffiziellen Regelwerk – kultiviert werden, konkrete Zuwiderhandlungen Einzelner nicht anprangert: Die Gruppe möchte nicht, dass ihre Normen diskreditiert werden, weswegen sie eher einzelne Abweichler unter Druck setzt. Schließlich stellen Abweichler quasi das gesamte System, so wie es ist, in Frage. Besonders problematisch wird es jedoch, wenn gerade hochgestellte und als überaus wertvoll eingestufte Beschäftigte illegale Verhaltensweisen in der Firma vorleben.
Das Ausüben oder Dulden etablierter, illegaler Handlungsweisen kann dem einzelnen Beschäftigten zweifelsfrei eine Reihe von persönlichen Vorteilen einbringen. Beispielsweise kann ein billigendes Verhalten des Vorgesetzten, des Kollegen oder des Untergebenen die jeweiligen Zuwiderhandelnden zu Dank verpflichten, was zu einem späteren Zeitpunkt – in Form einer finanziellen Aufmerksamkeit oder einer guten Position – abgegolten werden kann. Hieraus wird ersichtlich, dass sich in diesem Zusammenhang besonders pragmatische Formen der Loyalität entwickeln können – verstärkt durch das Gefühl „Wir sitzen alle im gleichen Boot“. Wer sich dieser Gruppendynamik entziehen möchte, muss entweder gegen sie rebellieren, kündigen oder seine Grundhaltung ändern. Die Folge: Ein toxisches Unternehmensklima. Schließlich können sich bereits aus schlichten Handlungsweisen stark verankerte Rollenmuster entwickeln. Gegen diese Art von Unternehmenskultur gilt es, sich zu wehren!
Übertriebene Zielvorgaben – Ursache und Lösung allen Übels
Wie gehen Mitarbeiter mit nicht erreichbaren Zielvorgaben um? Sie beginnen, zu experimentieren, um diese irgendwie trotzdem einzuhalten. Schließlich hat das Verfehlen der Zielvorgaben für sie auch persönliche Konsequenzen. Es empfiehlt sich daher nahezu, die gesetzten Maßstäbe einfach illegal zu erreichen. Auf diese Weise steigt sowohl bei Angestellten als auch bei Führungspersonen rasch die Bereitschaft zur Nutzung von „brauchbarer Illegalität“. An dieser Stelle müssen sämtliche Lösungsstrategien ansetzen. Das Managen der „brauchbaren Illegalität“ bzw. das Ausloten von innovativen Ausnahmen vom offiziellen Regelwerk will nämlich gelernt sein. Doch in welchem Rahmen ist dies erlernbar? Auf Managementsymposien sicherlich nicht. Denn wie es schon der Soziologe Stefan Kühl in seinem Working-Paper zum VW-Skandal (PDF) treffend formuliert: „Auf Managementkonferenzen lernt man in der Regel nur die neusten Ornamente im Fassadenmanagement kennen, nie das, was in den Organisationen wirklich abgeht“.
Führungskräfte sollten sich für mehr Diversität auf allen Hierarchieebenen in ihren Unternehmen einsetzen, da diese das Risiko von Regelverstößen automatisch minimiert. Setzen Sie sich daher für ein gezieltes Recruiting auch von kritisch denkenden Führungskräften ein! Wir bei SPECTRUM wissen, dass Vorstände den Sinn ihrer Unternehmensziele besser vermitteln und ihren Werten konsequent Ausdruck verleihen müssen, anstatt sich von bloßen ökonomischen Vorteilen berauschen zu lassen. Ein Unternehmen sollte sich schließlich nicht an einer Flut von Kennzahlen orientieren und nicht mit überhöhtem Druck geführt werden. Diese Wertehaltung sollte sich auch in der Leistungsbeurteilung der Beschäftigten sowie in deren Zielvereinbarungen wiederfinden.
Leider gibt es immer wieder Unternehmen, die mit überaus ambitionierten Zielvorgaben illegale Verhaltensweisen aufseiten ihrer Beschäftigten regelrecht provozieren. Dies ist ein generelles Problem – nicht nur in der Wirtschaft. Viele Führungskräfte überhitzen im Sog des omnipräsenten Effizienzdrucks und übernehmen für ihre Entscheidungen letztendlich keine Verantwortung mehr. Ein Umdenken ist also wünschenswert – zum Wohle der moralischen Integrität und der Reputation nicht nur des eigenen Unternehmens, sondern auch des gesamten Wirtschaftssystems.
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