Bildungsgerechtigkeit in Deutschland – Warum die soziale Herkunft doch noch eine Rolle spielt und was man dagegen tun kann

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junges Maedchen sitzt auf Boden an Schuleingang schaut traurig wegen Bildungsgerechtigkeit

Hierzulande wird leidenschaftlich über Bildung gestritten. Zweifelsfrei ist sie unabdingbar nicht nur für die Persönlichkeitsentwicklung und Selbstentfaltung unserer Schützlinge, sondern auch für die Zukunftsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und für die demokratische Gesellschaft als Ganzes. Wie unser Bildungssystem jedoch im Detail gestaltet werden soll, darüber herrscht seit jeher Uneinigkeit. Zwar haben im Laufe der letzten Jahrzehnte die staatlichen Bildungsbemühungen der deutschen Gesellschaft grundsätzlich einen hohen Bildungsstandard beschert und viel Bildungsungleichheit abgebaut, doch von echter Bildungsgerechtigkeit kann – auch wegen Corona – noch lange nicht die Rede sein. Tatsächlich werden Bildungschancen nach wie vor vererbt.

Alter Wein aus neuen Schläuchen: Bildung als Megathema

Wer heutzutage Bildung zum „Megathema unserer Gesellschaft“ erklärt und eine Reform unseres Bildungssystems verlangt, müsste auf einiges Gelächter vor allem älterer Zeitgenossen stoßen. Dasselbe hat bereits der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog in seiner berühmten Ruck-Rede von 1997 im Berliner Adlon-Hotel getan. Doch ist in den 24 Jahren, die seither vergangen sind, wirklich ein „Ruck“ durch Deutschland gegangen oder werden die Deutschen immer noch von einem Gefühl der Lähmung beherrscht, wie Herzog damals attestierte? Innovationsfähigkeit, bekundete er, fange schließlich im Kopf an – dazu gehöre auch unsere Einstellung zu neuen Arbeits- und Ausbildungsformen sowie zu neuen Technologien. Natürlich ist die Welt um uns herum im Laufe der Jahre immer komplexer geworden. Doch könnte Herzogs Forderung nach mehr Flexibilität aktueller nicht sein – vor allem angesichts der Herausforderungen, welche die Corona-Pandemie an die Menschen und Unternehmen von heute stellt. Diese Flexibilität kann jedoch nicht von jedem von uns gleichermaßen aufgebracht werden, weil Menschen in unterschiedlichen soziokulturellen Milieus mit unterschiedlichen Ressourcen aufwachsen. Im Klartext heißt das: Hierzulande werden Bildungschancen und damit Lebenschancen größtenteils vererbt und Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund oder aus sozial schwächeren Familien werden immer noch benachteiligt – sowohl auf ihrem Bildungsweg als auch später auf dem Arbeitsmarkt.

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Bereits vor 24 Jahren hatte Bundespräsident Herzog richtig erkannt, dass das Credo unserer heutigen Wissensgesellschaften „Lebenslanges Lernen“ lauten würde. Darunter ist der Erwerb von sogenannten „Future Skills“ zu verstehen, also von Fertigkeiten und Techniken, um mit komplexen Wissensbeständen und Multikulturalität sicher umgehen zu können. Diesem Anspruch müssen jedoch auch die jeweiligen Lernformate der weltweiten Bildungssysteme gerecht werden. Leider zählten in Deutschland in Zeiten des Lockdowns gerade ebenjene Kinder und Jugendliche zu den größten Bildungsbenachteiligten, deren Familien weder die Infrastruktur noch sonstige Kapazitäten für einen geordneten Lernalltag besaßen. In dieser Zeit fiel somit der milieubedingte Habitus beim Lernerfolg von Schülern besonders ins Gewicht. Bleibt dieser langfristig unreguliert, beeinflusst er nicht nur maßgeblich deren Lernverhalten, sondern auch letztendlich den weiteren Bildungsweg. So lassen sich nachhaltige Bildungsungleichheiten beispielsweise allein schon dadurch reproduzieren, wenn Lehrkräfte ihre Schlüsselempfehlungen, ob ein Schüler nach der Grundschule ein Gymnasium oder etwa die Realschule besuchen solle, den Erwartungshaltungen und dem Habitus der jeweiligen Eltern anpassen. Wie also schaffen wir als Gesellschaft den von Herzog erhofften Aufbruch in der Bildungspolitik, ohne dass einzelne Schüler marginalisiert werden?

Lösungsansätze für mehr Bildungsgerechtigkeit

Wenn es um Bildungsexpansion geht, ist der sogenannte „Fahrstuhleffekt“ den meisten von uns bekannt. Es reicht bekanntlich nicht, lediglich die Bildungschancen für alle Menschen gleichzeitig zu erhöhen, da sich dadurch Bildungsungleichheiten kaum reduzieren lassen. Viel wichtiger ist stattdessen das meritokratische Prinzip, demnach der Zugang zu Bildung und der Erwerb von Bildungsabschlüssen schwerpunktmäßig über Leistung erfolgen sollten. Dennoch spielt der sozioökonomische Status beim Bildungserfolg in Deutschland – auch Pandemie-bedingt – nach wie vor eine tragende Rolle, wie nun auch die OECD, die über Chancengleichheit in internationalen Bildungssystemen forscht, in ihrem aktuellen Bericht „Bildung auf einen Blick“ (von September 2021) feststellt. Ferner konstatiert sie, dass Frauen in MINT-Fächern hierzulande nach wie vor unterrepräsentiert seien und auch generell ein deutlich geringeres Einkommen als ihre männlichen Kollegen erhalten würden. Klaren Handlungsspielraum erkennt die OECD hingegen im Bereich der Bildungsinvestitionen, denn hier liegt Deutschland mit 4,3 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts unter dem Durchschnitt aller OECD-Länder von 4,9 Prozent. Doch Investitionen sind nicht das einzige Entwicklungspotenzial, um im Land der Dichter und Denker mehr Bildungsgerechtigkeit und damit auch mehr soziale Mobilität zu schaffen.

Laechelnde Lehrerin vor Grundschulklasse zeigt auf Tablet in Unterricht

Um den „Schereneffekt“ zwischen Bildungsprivilegierten und Bildungsbenachteiligten abzumildern, sind in erster Linie der Bildungsbedarf von Schülern und die Ressourcen von Bildungsträgern besser aufeinander abzustimmen und größere Investitionen in alternative Bildungsformate sowie in die Sprachförderung zu tätigen. Dabei kann nicht oft genug betont werden, wie wichtig es ist, möglichst früh vor allem Kindern und Jugendlichen aus sozial prekären Milieus – neben dem sicheren Gebrauch der deutschen Sprache – solide emotionale, kognitive und soziale Lernkompetenzen zu vermitteln, so auch der OECD-Generalsekretär Mathias Cormann im OECD-Bericht. Hierfür brauche es ferner auch Investitionen in technikaffine Lehrkräfte, die in der Lage sind, die individuellen Bedürfnisse ihrer Schüler zu erkennen und ihre Lernstrategien mit passenden Tools darauf auszurichten. Schließlich erlauben gerade unsere heutigen Technologien völlig neue Lernerfahrungen und mehr Pluralität in Bildungseinrichtungen. Abschließend sollten benachteiligte Familien noch zusätzlich ermutigt werden, ihre Schützlinge nicht nur fürs Gymnasium oder für eine Berufsausbildung bzw. Hochschulstudium zu begeistern, sondern diese bereits frühzeitig in Kindergärten zu schicken und für außerschulische Aktivitäten in sekundären Bildungsorten wie Verbände oder Vereine zu motivieren. Denn es gibt wohl keinen größeren Bildungsmotivator als das Fördern der eigenen Neugier.

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